Mittwoch, 7. Dezember 2011

Alltagssexismus, Vorurteile und Reflektion

In diesem Artikel im Kegelclub beschreiben die Autoren @herrurbach bzw. @acid23 sich selbst als "Alltagssexisten" und benennen einige der Vorurteile, die sie in ihrem Alltag Frauen gegenüber an den Tag legen. Sie nennen einige Beispiele, etwa der Blick auf die Busen und Po oder dass sie bei einem langsam fahrenden Autofahrer zunächst davon ausgehen, es wäre eine Frau. Und sie kommen zu dem Schluss, dass dieses Verhalten sexistisch und falsch ist und dem anderen Geschlecht "einen Teil ihres Menschseins" raube.

Ein längerer Teil des Artikels handelt dann auch darüber, wie sie versuchen, ihr Verhalten zu kontrollieren, aber immer wieder "schnappt das Gummiband zurück". Sie beschreiben, wie sie "in einer sexistischen Umgebung" aufgewachsen seien, in der "die Vorurteile und kleinen Späße [..] kein Problem" waren und auch nicht Gesprächsthema.

Ich habe da etwas andere Ansichten. Sicher, ich zeige dieselben Verhaltensweisen. Ich schaue (schöne, das sind die meisten) Frauen lieber an als Männer, nicht nur im Gesicht. Ich bin einer Frau gegenüber zuvorkommender, freundlicher und offener. Wenn ein Auto mitten im Verkehr den Motor abwürgt, bin ich nicht überrascht, wenn eine Frau am Steuer sitzt. Und auch ich würde einer Frau gegenüber technische Dinge anders erklären als einem Mann. Jeweils unterstellt, dass ich von jemandem rede, den ich noch nicht kenne.

Diese Verhaltensweisen zeige ich bei vielen Unterscheidungsmerkmalen: Beispiel Alter: Ich schaue (schöne, das sind die meisten) junge Menschen lieber an als alte, nicht nur im Gesicht. Wenn eine Auto mitten im Verkehr den Motor abwürgt, bin ich nicht überrascht, wenn ein älterer Mensch am Steuer sitzt. Und auch ich würde einem älteren Menschen gegenüber technische Dinge anders erklären als bei einem jungen Menschen.

Ähnliche Beispiele lassen sich für sehr viele von außen leicht erkennbare Merkmale finden: Herkunft (der äußeren Erscheinung nach), Größe, Gepflegtheit, Automarke, Kleidung, Stadtkürzel des Nummernschilds und so weiter. Die Liste ist endlos. Natürlich ist es ebenso ein Vorurteil, wenn ich jedem Mercedesfahrer unterstelle eine "eingebaute Vorfahrt" zu haben, wie wenn ich bei jedem Fahrer mit SU-Nummernschild von einer rücksichtslosen Fahrweise ausgehe, wenn ich bei einer Person mit sehr kurzen Haaren sofort an Neonazis denke oder wenn ich bei Menschen osteuropäischer Herkunft ohne es zu wollen etwas vorsichtiger bin und vielleicht die Straßenseite wechsle. Bei vorgenannten kurzhaarigen Personen übrigens auch.

Wir brauchen Vorurteile. Wie sonst sollen wir mit jeder Alltagssituation umgehen? Wir können nicht alles und jeden gleich behandeln. Ich meine damit nicht, dass dieses Verhalten aus irgendeinem Grund unpraktisch wäre oder so, sondern dass wir es schlicht und ergreifend nicht können. Menschen werten. Immer. Auch, wenn sie jemanden zum allerersten Mal sehen. Das heißt aber doch automatisch, dass Vorurteile eine Rolle spielen, denn beim allerersten Sehen weiß ich über mein Gegenüber eben nur, was ich sehe. Allein daran kann man kaum eine Fähigkeit oder Charaktereigenschaft zuverlässig bestimmen. Mit anderen Worten: man vorurteilt.

Und ich weiß, dass manche, sogar viele, dieser Vorurteile falsch sind, das heißt, dass eben das ungute Gefühl, dass mich leider bei einem fremden Menschen osteuropäischer Herkunft manchmal beschleicht, irrational und nicht auf belegbaren Fakten begründet ist und eine besondere Vorsicht unnötig und dem Menschen gegenüber verletzend ist. Das muss ich reflektieren und meistens, hoffe ich, gelingt mir das ganz gut und ich wechsle eben nicht die Straßenseite.

Wenn ich mich im Auto mal wieder über Mercedesfahrer aufrege, sehe ich das schon ein bisschen anders. Die Reflektion ist hier einfacher: Ich ändere mein Verhalten gegenüber Mercedesfahrern nicht. Daher ist das Vorurteil schon harmloser und ich muss auch nicht immer daran denken.

Es sind auch nicht alle Vorurteile per se falsch. Auch sie gründen ja, zum Teil, auf Erfahrungen. So haben viele ältere Menschen mehr Probleme mit Technik als jüngere, darum ist es nicht falsch, darauf einzugehen. Wenn man dann mal die Ausnahme von dieser Regel erwischt, ist das vielleicht unangenehm und möglicherweise auch unschön, aber alle Menschen gleich zu behandeln würde das Erklären doch arg erschweren, da man entweder vielen die Dinge zu kompliziert erklärt oder viele mit unnötig ausführlichen Erklärungen langweilt.

Auch die Vorurteile über die Geschlechter sind nicht alle per se falsch. Das zu behaupten wäre realitätsfern. Meiner Meinung nach sind Frauen beispielsweise in der Regel einfühlsamer, offener, als Männer. Sie sind üblicherweise weniger wettbewerbsorientiert, ich würde fremden Frauen zum Beispiel ganz andere Gesellschaftsspiele vorschlagen als Männern. Das sind natürlich Erfahrungswerte und somit auch ein Durchschnitt, das heißt dass natürlich viele Frauen auch die strategischen und taktischen Spiele gerne Spiele, die ich eher Männern unterstelle (und umgekehrt), doch die meisten eben nicht. Männer und Frauen unterschiedlich zu behandeln ist damit nicht per se falsch.

Wichtig ist aus meiner Sicht die Reflektion: Man sollte sich bewusst sein, auf welch dünner Grundlage, nämlich der Wahrnehmung der wenigen sichtbaren Merkmale, man sein erstes Urteil bildet. Man (und das ist ganz bewusst mit einem 'n' geschrieben) sollte bereit sein, seine Einschätzung bei näherem Hinsehen, gewissermaßen mit dem Erlangen weiterer Informationen über die Person, zu revidieren. Wenn ich einem fremden, älteren Menschen einen technischen Sachverhalt erkläre und bemerke, dass dieser mir sehr gut und schnell folgen kann, dann ändere ich die Art des Erklärens und passe mich an. Dieser Mensch ist damit in dieser Hinsicht für mich auch nicht mehr so fremd, und ich gelange einen Schritt vom Vorurteil in Richtung Urteil.

Man sollte auch reflektieren, welches Verhalten man den anderen Menschen gegenüber an den Tag legt. Ich kann Vorurteile nicht prinzipiell aufheben, das widerspricht meiner Natur als Mensch und ich glaube keinem Menschen, der auch nur behauptet, in dieser Hinsicht Fortschritte zu machen. Ich kann aber mein Verhalten kontrollieren, kann mir eines Vorurteils bewusst werden und versuchen, trotzdem möglichst allen Menschen die gleiche Achtung entgegenzubringen. Das mache ich zum Beispiel, in dem ich auch bei einer Person, die in mir ein unangenehmes Gefühl erzeugt, bei der ein erster Reflex wäre, die Straßenseite zu wechseln, bewusst auf der Straßenseite bleibe. Oder indem ich einer Frau vielleicht bestimmte Verhaltensweisen am Steuer eines Autos im Geiste unterstelle, mich aber trotzdem davon abhalte, Hinweise auf eine bessere Fahrweise zu geben oder dergleichen.

Das ist nicht immer leicht und sicher gelingt es keinem perfekt. Mir bestimmt nicht. Und sicher bin ich auch, in einer gewissen Bedeutung des Wortes, sexistisch im Alltag. Denn natürlich (in der wahrsten Bedeutung dieses Wortes, nämlich auf Grund meiner Natur) versuche ich einer attraktiven Frau mehr zu gefallen als einem fremden Mann. Dieses Verhalten diskriminiert nicht nur den Mann, sondern auch weniger attraktive Frauen. Damit gebe ich einem begrenzten Kreis Menschen einen Bonus, den andere sich erst erarbeiten müssen. Wie sollte ich das aber ändern? Ich möchte nun mal keine besondere Aufmerksamkeit (und damit ist nichts sexuelles gemeint, dass über vielleicht einen harmloser Flirt und ein nettes Gespräch hinausgeht) von Männern oder unattraktiven oder unsympathischen Frauen, sondern von attraktiven und sympathischen, und das sind nun mal Eigenschaften, die ganz eng mit dem Äußeren verbunden sind, und damit essentiell Vorurteile. Da habe ich auch keine Lösung für.

Mein Fazit: @herrurbach und @acid23 verdienen Respekt dafür, dass sie über ihr eigenes Verhalten reflektieren und versuchen, an sich zu arbeiten. Ich glaube allerdings, dass sie ein wenig an der falschen Stelle ansetzen. Man hat das Gefühl, die beiden wollen ihre Gedanken ändern. Das wird ihnen nicht gelingen, da bin ich mir sicher. Mit viel Reflektion kann man aber sicher sein Verhalten in vielerlei Hinsicht anpassen, so dass die Wirkung von Vorurteilen stark abgeschwächt werden kann.


Nachtrag: Ich verwende das Wort "Vorurteil" im Rahmen dieses Textes nicht im Sinne eines dauerhaft vorhandenen Urteils über eine Gruppe mit einem bestimmten Merkmal. Ein solches Vorurteil gehört selbstverständlich dauerhaft bekämpft und abgeschafft und es zu akzeptieren hieße tatsächlich, Sexist, Rassist oder entsprechend des 'verurteilten' Merkmals ein anderer -ist zu sein. Ich verwende das Wort "Vorurteil" im Sinne eines Urteils gegenüber eines Angehörigen einer Gruppe mit einem bestimmten Merkmal , das vorübergehend Anwendung findet, bis man genaueres erfährt.
So habe ich @herrurbach und @acid23 auch verstanden, jedenfalls legen ihre gewählten Beispiele das nahe.

11 Kommentare:

Argolas hat gesagt…

OK, auf Twitter würde mir unterstellt, ein Rassist zu sein. Leider nicht zu mir, sondern nur über mich. Vielleicht liege ich mit meiner obigen Argumentation ja völlig falsch. Dann müsste es doch auch ein paar Argumente für andere Ansichten geben, oder?

Anonym hat gesagt…

http://hollarius.wordpress.com/2011/12/08/alltagssexismus-alltagsrassismus/ ... gleiches Thema, anderer Ansatz ...

Elmar Diederichs hat gesagt…

Mich würde interessieren, wie du zu deiner Erfahrungsgrundlage für die Einfühlsamkeit von Frauen kommst. Wenn das ein überprüfbarer Prozeß wäre, dann würden solche Diskussionen auch nicht um die ewig gleichen und ebenso langweiligen wie uninformativen Rassismusvorwürfe kreisen.

Argolas hat gesagt…

@Elmar: Meine Erfahrungsgrundlage? Keine, die nicht andere auch haben oder machen. Ich lebe, bin mit Frauen und Männern befreundet. Und da ist meine subjektive Erfahrung eben jene.

Ein überprüfbarer Prozess im wissenschaftlichen Sinne ist das nicht, oder zumindest sehe ich nicht, wie das überprüfbar wäre, und das wird auch die Gender- oder gar Rassismus-Debatte nicht beenden.

Insbesondere sagt diese Erfahrung nichts über ein bestimmtes Individuum aus: Ich kenne einfühlsame Frauen und grobe Frauen und grobe Männer und einfühlsame Männer. Die Erfahrung spiegelt nur eine Art Wahrscheinlichkeit wieder, ein Schema, mit dessen Hilfe man die Eigenschaften einschätzen kann, die man noch nicht direkt erfahren konnte.

Elmar Diederichs hat gesagt…

Eben - das ist das Problem: Wenn meine Erfahrungen andere sind, was machen wir dann? Wer von uns hat recht und zu was berechtigen oder können uns unsere Erfahrungen vernünftigerweise motivieren, wenn alles subjektiv bleibt?

Nichts, nicht wahr? Solange du deine Erfahrungen nicht validierst, und damit Irrtum oder Täuschung von haltbaren Behauptungen unterscheidest, wirst du wenig über die dich eigentlich umgibt herausbekommen. Und damit wird auch die ganze gender-Debatte immer so obeflächlich bleiben, wie sie im Moment ist.

Das ist mein Punkt.

Argolas hat gesagt…

Es kommt darauf an, welches Ziel die Gender-Debatte, genauer, diejenigen, die über Gender debattieren, verfolgen. Solange das Ziel "Abschaffung aller Vorurteile" und "Gleichbehandlung" ist, kann das meiner Meinung nach nicht erreicht werden, und genau der Punkt, den Du nennst, ist der Grund dafür: Unsere subjektiven Erfahrungen zwingen uns zu Vorurteilen, weil wir naturgemäß Unbekanntes nach unseren subjektiven Erfahrungen beurteilen.

Das zu reflektieren und sich nach Kräften zu bemühen, diese Vorurteile nicht als Maßstab des eigenen Handelns zu benutzen, weil man sich ihrer Subjektivität möglichst bewusst sein muss, ist allerdings - nach meiner bescheidenen Meinung - ein erreichbares Ziel.

Und über die, die mich umgeben, habe ich ja Erfahrungen. Es geht hier um die Einschätzung derjenigen, denen ich neu begegne.

Elmar Diederichs hat gesagt…

" Unsere subjektiven Erfahrungen zwingen uns zu Vorurteilen, weil wir naturgemäß Unbekanntes nach unseren subjektiven Erfahrungen beurteilen."

Das habe ich verstanden. Kannst du einen Grund angeben, warum deine Erfahrung sujektiv ist?

Welcher andere Maßstäbe des Handelns schweben dir vor? Werden sie die von dir erwähnten Vorurteile immer ersetzen können?

Argolas hat gesagt…

Einen Grund, warum meine Erfahrung subjektiv ist? Weil nur ich sie mache, weil ich nur Teile der Wirklichkeit (wenn es so was gibt, aber lassen wir das ;-) ) wahrnehme. Niemand sieht ein Ereignis X genau aus dem Blickwinkel, aus dem ich es sehe, schon rein physikalisch, aber auch psychologisch, weil meine Wahrnehmung durch meine bisherigen Wahrnehmungen geprägt sind.

Ich sage ja gerade, dass Vorurteile nicht ersetzt werden können. Wir können aber als aufgeklärte Individuen erkennen, dass unsere Urteile Vorurteile sind, sein können, und unser Handeln dementsprechend nicht (allein?) auf unsere Vorurteile begründen.

Ein Beispiel: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es an bewölkten Tagen oft regnet. Trotzdem kann ich aus dem Fenster (nicht nur in den Himmel) schauen, um zu sehen, ob es tatsächlich regnet, bevor ich entscheide, ob ich regenfeste Schuhe und Kleidung anziehe. (Sehr spontanes Beispiel, mir fällt auf die schnelle kein besseres ein.)

Elmar Diederichs hat gesagt…

Du scheinst zusätzlich eine konstruktivistische Position zu vertreten, richtig?

Argolas hat gesagt…

In philosophischen Diskussionen schätze ich einen gewissen Skeptizismus, in Diskussionen, die alltagstauglicher sein sollen allerdings weniger.

Bewusst habe ich eine konstruktivistische Position jetzt nicht eingenommen, nein. Wenn sich das auf meine Aussagen zu subjektiven Erfahrungen bezog, wovon ich ausgehe, dann lass mich das so ausführen:

Wenn ich eine Person das erste Mal treffe, dann verfüge ich nur über die Wahrnehmungen dieser Person, die ich mit meinen Augen und vielleicht Ohren während dieses Treffens erfasse. Andere Menschen haben mehr (z.B. ein guter Freund) oder weniger (jemand, der sie noch nie gesehen hat und auch jetzt nicht sieht) Informationen wahrgenommen, auf jeden Fall aber nicht exakt dieselben wie ich.

Elmar Diederichs hat gesagt…

Ok, danke für deine Erklärungen.

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